Jahresbericht 2022

Unser
neues
Zuhause

Portrait

„Wir können hier gemeinsam leben und füreinander da sein“

Gesichter einer nachhaltig lebenswerten Gesellschaft

Klaus, 81, und Helene Kindervater, 83, leben in Flammersfeld in einer der bundesweit ersten Einrichtungen für inklusives Seniorenwohnen – gemeinsam mit ihrer geistig behinderten Tochter Karen, 56.

Klaus, 81, und Helene Kindervater, 83, leben im inklusiven Seniorenwohnheim Flammersfeld.
Gemeinsam mit ihrer geistig behinderten Tochter Karen, 56.

Feste Strukturen und Routinen sind für Menschen mit geistiger Behinderung elementar. Auch Karen Kindervater helfen sie, sich im Alltag zu orientieren und Sicherheit zu finden. Morgens weckt sie ihr Lieblingsradiosender mit englischer Popmusik, den sie auch am Abend zum Einschlafen gehört hat. Nach dem Zähneputzen, Waschen und Anziehen gibt es Frühstück. Von acht bis Viertel vor vier am Nachmittag arbeitet die 56-Jährige dann in der nahe gelegenen Werkstatt und verpackt Nägel, die zum Verschrauben von Dielenfußböden gebraucht werden, unterbrochen von einer halbstündigen Mittagspause. Nach Feierabend geht Karen Kindervater zurück in ihr Wohngruppen-Zimmer, um es kurz darauf wieder zu verlassen. Für den wichtigsten Programmpunkt des Tages muss sie nur die Straßenseite wechseln. Ihr Ziel ist das Lebenshilfe Pflegedorf Flammersfeld, Zimmer 121. Dort wird sie schon freudig erwartet: von ihrem Vater Klaus.

Die Evangelische Bank hat im Jahr 2022

~155 Mio. €

an Neukrediten im Bereich Pflege gewährt.

Nach einem Sturz und dem Bruch des linken Oberschenkels vor zwei Jahren sitzt der 81-Jährige im Rollstuhl. Seitdem wohnt Klaus Kindervater in dem inklusiven Seniorenheim im Westerwald. 72 Menschen mit und ohne Behinderung und mindestens Pflegegrad 2 leben hier in sechs familienähnlichen Hausgemeinschaften. Das Pflegedorf Flammersfeld, finanziert von der Evangelischen Bank, ist eines der ganz wenigen Seniorenheime dieser Art in Deutschland. Das Konzept ist zukunftsweisend, weil der Bedarf an integrativen Wohnformen für geistig behinderte Menschen steigen wird. Doch wegen des Fachkräftemangels in der Pflege können auch hier nicht alle Zimmer belegt werden. Die Wartelisten sind lang. Denn dank des medizinischen Fortschritts nähert sich die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung zunehmend derjenigen der Gesamtbevölkerung an. Unter chronischen altersbedingten Erkrankungen wie Arthrose, Rheuma, Diabetes, Demenzerkrankungen leiden sie genauso wie nicht behinderte Senioren. Nach Einschätzung von Expert:innen sind die wenigsten Alten- und Pflegeheime mit den speziellen Bedürfnissen körperlich und geistig behinderter Senior:innen vertraut.

Im Durchschnitt werden Menschen mit geistiger Behinderung laut der Studie „Vorausschätzung der Altersentwicklung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung in Westfalen-Lippe“ aktuell knapp über 70 Jahre alt. Die Schätzung lässt Rückschlüsse auf ganz Deutschland zu.

Zusätzliche Besonderheit des Pflegedorfes Flammersfeld ist die Verbindung mit den anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe. So können auch pflegebedürftige Eltern von behinderten Menschen in der Nähe ihrer Kinder bleiben. Wie die Kindervaters, die hier als Familie glücklich vereint sind. Denn auch Karens Mutter Helene, 83, wohnt im Pflegedorf. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind als Folge eines Sturzes stark eingeschränkt. Sie war kurz vor ihrem Mann eingezogen. Ihr Zimmer befindet sich am Ende des Gangs. „Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, für einen solchen Fall in ein Doppelzimmer zu ziehen. Das ist hier leider nicht möglich“, sagt Klaus Kindervater, „ein anderes Heim kam für uns trotzdem nicht in Frage: wegen Karen.“ Die einzige Tochter des Ehepaars lebt seit 2019 in der gegenüberliegenden Wohnstätte der Lebenshilfe. Als ihr Vater damals einen Schlaganfall erlitt, war die ausreichende Versorgung für sie zuhause nicht mehr gewährleistet.

Forscher des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung rechnen damit, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen von aktuell rund 4,1 Millionen auf 4,9 Millionen im Jahr 2030 und 5,6 Millionen im Jahr 2040 steigen wird. Dementsprechend würden bis 2040 weitere 322.000 stationäre Pflegeplätze benötigt. Derzeit leben rund 820.000 Menschen in einer solchen Einrichtung. Der errechnete Investitionsbedarf: 125 Milliarden Euro.1

„Erst klick, dann sprechen“, ermahnt sie ihr Vater zwei-, dreimal lächelnd und unterstreicht diesen Satz, indem er mit dem Zeigefinger an seine rechte Schläfe tippt. Er gibt ihr damit zu verstehen, dass sie langsamer sprechen soll.

Ein Leben für die Tochter

52 Jahre lang haben Klaus und Helene Kindervater fast jeden Tag mit Karen verbracht. Sie kann in Folge von akutem Sauerstoffmangel während der Geburt kein eigenständiges, unabhängiges Leben führen. Zwei bis vier von 1.000 Neugeborenen sind davon betroffen. Heute werden Komplikationen oft schnell festgestellt und es gibt verschiedene Therapiemöglichkeiten. Bei Karen damals beruhigte der Kinderarzt die Eltern, die verzögerte Entwicklung verliefe durchaus im Rahmen. Erst kurz vor der Einschulung diagnostizierten Fachärzte die schweren Hirnschäden.

Während Klaus Kindervater erzählt, sitzt Ehefrau Helene schweigend auf einem Stuhl im Zimmer. Ganz anders Karen. Wird sie etwas gefragt, sprudelt es nur so aus ihr heraus. „Erst klick, dann sprechen“, ermahnt sie ihr Vater zwei-, dreimal lächelnd und unterstreicht diesen Satz, indem er mit dem Zeigefinger an seine rechte Schläfe tippt. Er gibt ihr damit zu verstehen, dass sie langsamer sprechen soll. Karen wiederholt die Geste und den Satz – und verlangsamt ihren Redefluss. Zumindest für den Augenblick.

Besonders gern erzählen Vater und Tochter von früher. Von den vielen gemeinsamen Reisen. Sommerferien an Nord- und Ostsee. Städtetouren durch Europa. Kurzreisen quer durch Deutschland. Zweimal fliegt die Familie nach Kanada, um Verwandte zu besuchen. Karen erinnert sich an kleinste Details. „Karens Gedächtnis ist außergewöhnlich. Das war schon immer so“, sagt Klaus Kindervater.

Viele Eltern sind in ihrer lebenslangen Fürsorglichkeit ein Anker im Leben von Kindern mit Behinderung. Darauf vertrauen sie auch, wenn sie längst erwachsen sind.

7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen lebten laut Statistischem Bundesamt Ende 2022 in Deutschland. 4,5 Millionen sind älter als 65 Jahre.2

„Hauptsache, Mama und Papa sind in der Nähe“

Karen Kindervater

Nähe und Vertrautheit

Heute findet das Familienleben überwiegend in Zimmer 121 statt. Ein rechteckiger Raum von knapp 20 Quadratmetern, zweckmäßig eingerichtet. Das Bett, Kleiderschrank, Tisch, zwei Stühle. Ein geräumiges Bad gehört dazu. Persönliche Gegenstände scheinen Klaus Kindervater nicht wichtig. Vor kurzem hat er sich einen neuen Laptop zugelegt. Einen kleinen externen Bildschirm nutzt er zum Fernsehen. Das bodentiefe Fenster gibt den Blick frei auf die hügelige Landschaft des Westerwaldes. Wenn die Temperaturen es erlauben, schiebt Karen ihren Vater manchmal im Rollstuhl durch den weitläufigen Garten. „Wir können hier gemeinsam leben und füreinander da sein“, sagt Klaus Kindervater.

Wenn Karen am Nachmittag herüberkommt und ihren Vater nicht antrifft, marschiert sie den Flur entlang bis zum letzten Zimmer hinten links, wo ihre Mutter Helene wohnt. Weit kann er ja nicht sein. Nähe und Vertrautheit werden zur wichtigsten Währung, wenn körperliche und geistige Behinderungen das gewohnte Leben einschränken. „Hauptsache, Mama und Papa sind in der Nähe“, sagt Karen Kindervater. Die Kindervaters sind ein Beispiel dafür, wie wenig Platz Glück braucht.

Mit dem innovativen Konzept des inklusiven Seniorenwohnens betritt die Lebenshilfe Altenkirchen Neuland. Menschen mit Behinderung können in der Einrichtung gemeinsam mit ihren Angehörigen alt werden. Dank der langjährigen partnerschaftlichen Zusammenarbeit gepaart mit großer Branchenexpertise der Evangelischen Bank entstanden eine fachkundige Analyse von Bedarf und Marktumfeld sowie die passende Finanzierung.

Quiz

Warum ist das Pflegedorf Flammersdorf zukunftsweisend?
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